BEDINGUNGEN DES ZUSAMMENLEBENS IN EINER HETEROGENER WERDENDEN GESELLSCHAFT
Von Hartmut Ayrle
DER PREIS DER FREIHEIT
Neutralität, Homogenität, Moralität und die Voraussetzungen des Freiheitlichen Staates
Dr. Hartmut Ayrle, Stadtbaudirektor Bruchsal
Vortrag am 24. Juni 2016 bei der Kulturinitiative Bruchsal
Ich möchte vorwegschicken, dass ich hier zu Ihnen spreche als Architekt und Stadtplaner, und als Leiter der Stadtentwicklung Bruchsal. Ich war zuvor 10 Jahre freiberuflicher Architekt und 10 Jahre Professor für Architektur an der Hochschule Bremen. Mein Beitrag zu unserem Thema ist von diesen Vorerfahrungen sicher geprägt. Ich spreche hier als Privatmann auf dem Hintergrund meiner beruflichen Erfahrung, und nicht als Vertreter der Stadt Bruchsal.
Anlass: 1 Million Flüchtlinge in Deutschland Die aktuelle Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland macht das Zusammenleben in unserer Gesellschaft vielfältiger und heterogener.
Der Pluralismus an Lebenskulturen und Wertesystemen, der sich spätestens seit der Reformation im 16. Jahrhundert gebildet hat, der sich nach der Französischen Revolution und zuletzt seit dem Zweiten Weltkrieg exponentiell erweitert hat, wird noch einmal breiter. Diese Tagung fragt nach den Bedingungen des Zusammenlebens in dieser heterogener werdenden Gesellschaft.
Unser Gastgeber Hubert Kessler zieht dazu den Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bei, der in den frühen 60er Jahren ganz pointiert die Frage nach den Voraussetzungen des säkularen Staates gestellt hat. Er wollte damit den deutschen Katholiken ihre Rolle in der neuen, ideologisch und religiös neutralen Bundesrepublik weisen: gerade weil der Staatsapparat neutral ist, seid ihr frei, im politischen Wettstreit mit anderen den Staat als Bürger durch eure religiös fundierte Moralität zu formen. Wie stark und wie christlich diese prägende Wirkung von Christen in der
Politik dann effektiv war und weiterhin ist, ist eine Frage für eine andere Tagung.
Offensichtlich ist allerdings, dass in den letzten Jahrzehnten der Einfluss christlicher Religionen auf die konkrete Gestaltung von Politik drastisch zurückgeht: heute gelten religiöse Überzeugungen weitestgehend als Privatsache und haben in der politischen Diskussion keinen Platz mehr. Mit dem Zuzug von Moslems ganz unterschiedlicher Bekenntnisse stellt sich nun erneut die Frage, welche Rolle Ideologie und Religion im öffentlichen Raum und im politischen Feld einnehmen dürfen.
Ich verwende im Folgenden die Begriffe „Religion“ und „Ideologie“ als Beispiele für Weltanschauungen. Ich meine mit beiden Begriffen einigermaßen systematische Ideengebäude, die dem Einzelnen eine Weltanschauung und die Einordnung seiner Person in diese Welt anbieten. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen in der Verwendung eines Gottesbezuges in ihrem Weltbild. Religionen und Ideologien
formulieren für den Einzelnen immer Wertesysteme als Orientierungsrahmen für sein persönliches Verhalten. Traditionell nennt man ein persönliches Wertesystem die Moral einer Person.
Während sich die Wertesysteme der Einwohner Deutschlands weiter auseinander entwickeln, sind die Institutionen unseres säkularen Staatswesens zu weltanschaulicher, das heißt ideologischer und religiöser Neutralität verpflichtet. Ihr Werterahmen sind allein das Grundgesetz und die Menschenrechte. Viele befürchten nun, durch die Zuwanderung von Menschen moslemischen Glaubens könnten die Spielregeln und die politische Kultur in unserer Gesellschaft substantiell verändert werden. Da der Staat weltanschaulich neutral argumentiert und die Freiheit auch der Zugewanderten respektiert, sind scheinbar Tore geöffnet für eine Überformung unserer politischen Kultur.
Ich möchte mit meinem Beitrag gegen Ende dieser Tagung noch einmal genau hinschauen, was Böckenförde über die Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularisierten Staates sagt, und überlegen, was das Heute, 50 Jahre später bedeuten kann.
Böckenförde´s Voraussetzungen des freiheitlichen säkularen Staates Hören wir Böckenfördes Diktum also nochmal wörtlich an: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das ist der viel zitierte Satz; für sich allein stehend ist es eine ungedeckte, aber interessante Behauptung.
Er fährt dann direkt fort und erläutert, was er meint: „Als freiheitlicher Staat kann er (..) nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“
Böckenförde geht offenbar davon aus, dass die staatlich gewährte Freiheit der Bürger sich nicht von selbst erhält. Das kann man mit Recht sagen, denn tatsächlich ist ja im Faschismus immer wieder der Missbrauch der Freiheit zu ihrer eigenen Abschaffung zu beobachten.
Daher nennt Böckenförde zwei Voraussetzungen für die Permanenz eines freiheitlichen Staatswesens:
(1) zunächst eine individuelle Voraussetzung: die innere Regulation der bürgerlichen Freiheit aus der moralischen Substanz des Einzelnen;
(2) dann eine soziale Voraussetzung: die innere Regulation der bürgerlichen Freiheit durch ein gewisses Maß an Homogenität der Gesellschaft; und ich wage, demütig aber entschlossen, etwas nur indirekt Gesagtes ausdrücklich hinzuzufügen:
(3) eine dritte, strukturelle Voraussetzung: die fortdauernde weltanschauliche Neutralität des Staatswesens.
Wir haben hier also jemand, der sich zutraut zu sagen, welche Bedingungen für das Fortbestehen unseres freiheitlichen Staates bestehen. Wir brauchen laut Böckenförde einen weltanschaulich neutralen Staatsapparat, wir brauchen eine gewisse Homogenität der Gesellschaft, und wir brauchen eine gewisse Moralität der einzelnen Bürger.
Zu diesen drei Voraussetzungen will ich aus heutiger und durchaus subjektiver Sicht etwas sagen, und ich will mich vom letzten zum ersten Thema vorarbeiten.
1 - Strukturelle Voraussetzung: Gibt es weltanschaulich neutrales Verwaltungshandeln im säkularen Staat?
Zunächst also zu der strukturellen Voraussetzung eines weltanschaulich neutralen Staates. Ich will direkt in das Problem springen, das mit dieser Forderung zusammen hängt. Wenn man von weltanschaulich neutralem Verwaltungshandeln spricht, so ist damit gemeint, dass staatliche Instanzen im Verlauf ihrer Abwägungs- und Entscheidungsprozesse keine Argumente benutzen, die in einer religiösen oder ideologischen Weltanschauung begründet sind. Vielmehr sollen die Argumente eines Verwaltungsverfahrens für jedermann nachvollziehbar sein und nicht nur für
Anhänger einer bestimmten Weltanschauung. Der Staat ist neutral, wenn seine Argumentationen für jedermann schlüssig und akzeptabel sind und nicht nur für Anhänger einer bestimmten Weltsicht. Aber: mit einer weltanschaulich neutralen Herleitung staatlichen Handelns sind noch keine weltanschaulich neutralen Inhalte gewährleistet.
Wenn man zum Beispiel wissen will, wie Sammelunterkünfte für Flüchtlinge aussehen sollen, muss man Vorschläge dazu vorlegen. In welchen Schritten solche Vorschläge entwickelt werden, welchen Anforderungen diese Vorschläge mindestens genügen sollen, wie einer der Vorschläge rechtmässig zur Umsetzung ausgewählt wird, all das regeln Verwaltungsverfahren. Innerhalb der Verfahren wird
weltanschaulich neutral argumentiert. Aber ist damit gewährleistet, dass die konkreten Architekturen und Organisationsformen für Sammelunterkünfte weltanschaulich neutral wären?
Natürlich nicht. Kein noch so ausgefuchstes Verwaltungsverfahren kann verhindern, dass Sammelunterkünfte in Portugal anders aussehen als in Deutschland, und dass sie in Baden-Baden anders aussehen als in Bruchsal. Sie werden von der jeweiligen regionalen Baukultur und von den konkreten Akteuren und deren kultureller Prägung wesentlich bestimmt. Das Verwaltungshandeln ist in seinen Ergebnissen nicht neutral und kann es nicht sein.
In der Entscheidungstheorie und in der Künstliche-Intelligenz-Forschung wird klar gezeigt: Die Vielfalt der real vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten zum Beispiel bei der Planung eines Gebäudes kann von keinem rationalen Verfahren eingefangen werden. Immer muss ein menschlicher Planer die tatsächliche Zahl der Möglichkeiten auf eine im Verfahren handhabbare Zahl reduzieren, die dann den
Entscheidern vorgelegt wird. Dabei benutzt der Planer kulturelle Standards, persönliche Präferenzen und Intuitionen, um aus der Unzahl von Möglichkeiten einige mögliche Lösungen für eine Aufgabe auszuwählen und nebeneinander zu stellen. Dieser Prozess ist weit entfernt von Objektivität oder Neutralität.
Und diesen Prozess durchläuft nicht nur der Bauplaner. Wer einen Flüchtlingsbetreuungsplan aufstellt, wer den Wochenplan des Betriebshofes aufstellt, wer die Verhandlungsstrategie für einen Rechtsstreit aufstellt, tut bei genauerem Hinsehen dasselbe. Ein Problem wird gelöst, in dem man zunächst möglichst alle Lösungswege anschaut, und dann unter diesen
Möglichkeiten auswählt. Nie werden einem Entscheidungsgremium ALLE wirklich vorhandenen Möglichkeiten präsentiert, immer ist es eine Vorauswahl, aus der dann die Entscheider ihre Wahl treffen. Natürlich werden für den sichtbaren Teil der Auswahl allgemein nachvollziehbare und nicht ideologisch geprägte Argumentationen benannt. Aber daraus zu schließen, es handele sich um einen
weltanschaulich neutralen Entscheidungsprozess heißt nur, die Vielfalt der tatsächlich gelaufenen Vorentscheidungen nicht wahrzunehmen.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Natürlich muss das Ziel eines freiheitlichen Staates immer die weltanschauliche Neutralität des Staatsapparates sein, sonst ist es nicht weit her mit der Freiheit. Nur ist diese Neutralität im konkreten Einzelfall meist nicht leistbar; der einzelne Verwaltungsmitarbeiter muss auf seine kulturelle und damit weltanschauliche Prägung zurückgreifen, um offene
Aufgabenstellungen bewältigen zu können. Diese eigene Nicht-Neutralität oder besser: Voreingenommenheit ist nur dann akzeptabel, wenn sie dem Handelnden bewusst ist. Ein Verwaltungsbeamter, der im Glauben arbeitet, er könne tatsächlich neutral handeln, ist fragwürdiger als einer, der über seine Nicht-Neutralität wenigstens nachdenken und Rechenschaft ablegen kann. Und der Staat als Ganzes strebt nach Neutralität, kann sie aber nie erreichen, und bleibt immer kulturellen und damit weltanschaulichen Prägungen unterworfen.
Nur wer das anerkennt, kann angemessen mit Zuwanderern aus anderen Kulturen umgehen. So weit zur Neutralität des Staates, nun zu sozialen Voraussetzungen: laut Böckenförde braucht es ein Mindestmass an gesellschaftlicher Homogenität.
Worin könnte die bestehen?
2 - Soziale Voraussetzung: ein Mindestmass an innerer Homogenität oder: „Diktatur heißt: Halt´s Maul ! - Demokratie heißt: andauernd Streit“
Der Pluralismus von Weltanschauungen in unserer Gesellschaft ist Normalfall, schon lange bevor es die heutige Migration gab. Die aktuelle Einwanderungswelle von Bürgerkriegs- und Elends-Flüchtlingen nach Europa stellt uns keineswegs vor grundsätzlich neue Aufgaben. Was wir erleben ist ein für Deutschland mehrfach geübter Zuzug von Menschen aus anderen Kulturen, denen wir hier zugleich Raum für ihre Integration und für Ihre Selbstbehauptung geben. Nach den Weltkriegsflüchtlingen, nach den Gastarbeitern, nach den Flüchtlingen der 80er Jahre, bei der Suche nach Massnahmen gegen die demografische Schrumpfung muss man sagen: Zuwanderung ist nichts Neues, wir haben Erfahrung damit, wir werden es hoffentlich besser machen als bisher, und ich bin mir sicher: Wir schaffen das.
Allerdings ist Pluralismus anstrengend: Der Pluralismus von Weltanschauungen innerhalb der deutschen Gesellschaft entsteht spätestens mit der Reformation; die große homogene kirchliche Welterklärung und Rollenzuschreibung für alle Bürger zerfällt; unsere Vorfahren müssen lernen, differierende Wertesysteme in derselben Stadt direkt nebeneinander koexistieren zu lassen.
Pluralismus heißt anzuerkennen, dass mein Nachbar andere Werte und damit einen anderen Entwurf eines gelungenen Lebens hat als ich. Das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlicher Wertesysteme setzt den einzelnen erst frei, einen ganz eigenen, persönlichen Lebensentwurf zu entwickeln.
Andererseits macht die permanente Präsenz unterschiedlicher, sich teilweise widersprechender Lebensentwürfe es auch schwerer, die „Richtigkeit“ des je eigenen Lebensentwurfes zu behaupten.
Insofern taucht in jeder pluralistischen Gesellschaft immer wieder die Sehnsucht nach Einheitlichkeit, nach einer homogenen Lebenskultur auf, wo „wir“ uns „alle einig“ sind, wo vieles selbstverständlich und ohne Streit funktioniert. Diese Sehnsucht nach Einheitlichkeit, nach Gleichklang und Abwesenheit von Streit ist verstehbar als Suche nach einem Zusammenleben mit weniger Verhandlungsbedarf
über die Gestaltung unseres gemeinsamen Alltags. Die alte Spruchweisheit „Gleich und gleich gesellt sich gern“ beschreibt richtigerweise die menschliche Tendenz, sich in eher homogenen Gruppen zusammenzufinden, auf einem sozusagen energetisch niedrigeren Niveau sozialer Abstimmungsprozesse. Eine weltanschaulich heterogene Gesellschaft ist deshalb anstrengender als eine
homogene, weil in ihr mehr Abstimmungsbedarf über die öffentlichen Belange entsteht. Aus der Angst vor zu hohen Anpassungsleistungen an fremde Lebensstile speist sich eine Menge Angst vor Fremden; und übrigens auch die Angst der Zugezogenen vor den Einheimischen.
Dafür ist die heterogene Gesellschaft aber auch interessanter und lebenswerter, weil sie vielfältiger ist; das sieht aber nur, wer auch sonst ein halb volles statt Glas Wasser sieht statt einem halb leeren.
Die Tendenz zu Homogenität läuft der Forderung nach Pluralismus entgegen; in einer freiheitlichen Gesellschaft mit einem Pluralismus von Wertesystemen zu leben, heisst, einen Mehraufwand zu betreiben für die wechselseitige Abstimmung und Anpassung der vielfältigen Wertesysteme.
Der Versuchung, die Mühen der Vielfalt abzuschütteln und in einem einheitlichen Volks-Ganzen aufzugehen, sind unsere Vorväter im Dritten Reich erlegen. Wir werden es nicht noch einmal versuchen. Wir werden die Mühen der Heterogenität gern auf uns nehmen um die Freuden der Freiheit und der Vielfalt weiter ausleben zu können. Wir werden daher keinem singulären Wertesystem, keiner Ideologie und keiner Religion erlauben, sich in den Vordergrund zu spielen und den permanenten demokratischen Streit in einen totalitären Gleichklang zu überführen. Wenn also von Böckenförde nach einem Mindestmass an Homogenität in der Gesellschaft gefragt wird, dann muss die Übereinstimmung mindestens darin bestehen, dass sich alle, jenseits ihrer unterschiedlichen Wertesysteme dazu
bekennen, die Mühe der Heterogenität mitzutragen: Es ist von jeder Religion oder Ideologie im freiheitlichen säkularen Staat zu fordern, dass sie sich am Streit um den richtigen Weg beteiligt, und nicht versucht, diesen Streit durch einen Allmachtsanspruch aufzuheben.
Nun zu den vielleicht spannendsten, den persönlichen Voraussetzungen, grade, weil sie jeden einzelnen fordert: ein Mindestmass an moralischer Substanz jedes einzelnen Bürgers.
3 - Persönliche Voraussetzung: Moralität der einzelnen Bürger
Aus dem Blickwinkel des Einzelnen geht es dabei zunächst um die Frage, wie er sich zu den Regelungen in seinem Staatswesen stellt. Es kommt ja immer vor, dass man im persönlichen Lebensvollzug in Widerspruch zu Rechtsnormen gerät; dass also was ich will im Gegensatz steht zu dem, was der Staat von mir als Handlungsweise verlangt. Und dann ist es eine Frage der Moral, wie man seine Freiheit in diesem Spannungsfeld zwischen Wollen und Sollen nutzt.
Ein einfaches Beispiel zu Beginn ist der Transport eines Verletzten zum Arzt in der Fussgängerzone: Die Strassenverkehrsordnung verlangt, dass ich mit dem PKW aus der Fussgängerzone draussen bleibe; die rasche ärztliche Versorgung des Kranken verlangt aber, dass ich in die Fussgängerzone hinein fahre. Ich entscheide mich für das Hineinfahren, auch wenn es verboten ist, zugunsten des Kranken. Nun ist das eben ein einfaches Beispiel, weil die meisten zustimmen werden, dass das Recht des Kranken auf Versorgung höher zu werten ist als das Recht der Fussgänger auf eine autofreie Zone.
Aber so einfach ist es eben nicht oft. Ich will etwas von meinem persönlichen Ringen mit diesem Wollen-Sollen-Konflikt erzählen: Ich bin als Junge bei den Pfadfindern groß geworden, und dort gab es das Pfadfindergesetz. „Ein Pfadfinder ist Freund aller Menschen und Bruder aller Pfadfinder, egal zu welcher sozialen Klasse der andere gehört“ zum Beispiel, oder „Der Pfadfinder gehorcht aus freiem Willen, und macht nichts halb.“
Diese Pfadfindergesetze brachten in meine kindliche und jugendliche Welt einen abstrakten, jenseits meiner konkreten Situation formulierten Anspruch, dem ich mich stellen sollte. Damit begann meine Auseinandersetzung mit Regelwerken und mit der Frage, wie ich allgemein formulierte Regeln, die mir vorgegeben wurden, und meine jeweils konkrete persönliche Situation in Einklang bringen kann. Denn spätestens beim Gehorchen aus freiem Willen ist ja nicht ganz klar, ob man, wenn der eigene freie Wille nicht gegeben ist, dennoch gehorcht, oder ob man dann eben tatsächlich nicht gehorcht.
Dieses schlichte Gehorchen, einer Vorgabe, einer Anweisung, einer Regel bedingungslos zu gehorchen, das war ein grosses Thema für mich: wenn es eine Regel gibt, die mir nicht einleuchtet, muss ich ihr dann trotzdem folgen oder eher nicht? Es war für mich von klein auf klar, dass Regeln immer allgemein formuliert sind, lange vor dem konkreten Fall, und dass ich die Last aber auch die Freiheit habe zu überlegen, ob eine Regel nun im vorliegenden Fall anzuwenden ist oder nicht. Ich lernte Leute kennen, die eine Regel IN JEDEM Fall anwendeten, auch wenn der konkrete Fall nach einer anderen Lösung verlangte, und ich lernte auch die anderen kennen, die Regeln beliebig ausser Kraft setzten, je nach momentaner Laune. In beiden Fällen entsteht meist großer Ärger, das hat wohl jeder selbst schon eindrücklich erlebt.
Mit grosser Freude nahm ich als Heranwachsender dann zwei Stellen in den Evangelien zur Kenntnis, die sich um dieses Thema Gesetz und Lebenswirklichkeit zu drehen schienen:
(1) das erste ist die Geschichte von den Ähren am Sabbat. Da sind die Jünger Jesu, die am jüdischen Ruhetag, dem Sabbat, Ähren pflückend und kauend durch die Felder streifen; und weil das Ähren-Pflücken ein Erntevorgang ist, und Ernten am Sabbat verboten ist, werfen jüdische Priester Jesus daraufhin vor, seine Leute kümmerten sich nicht um das jüdische Gesetz. Ein typischer Widerspruch: laut Gesetz ist etwas verboten, was in der konkreten Situation völlig unproblematisch ist.
Und Jesus antwortet auf den Vorwurf mit diesem fulminanten Satz: „Nicht die Menschen sind für das Gesetz gemacht, sondern das Gesetz für die Menschen.“ Das brachte mir eine prinzipielle Orientierung für die Auflösung meiner Regel-versus-Einzelfall-Konflikte: im Zweifelsfall für die Menschen und gegen das Gesetz. Im Zweifelsfall ist der konkrete Mensch vor mir und was er braucht wichtiger als die Spielregeln, die irgendwann irgendjemand aufgestellt hat. Nicht, dass die Spielregeln damit nicht mehr gelten. Aber ihre Gültigkeit und Anwendung unterliegt der
Angemessenheit im jeweiligen Fall und den jeweiligen Menschen darin.
(2) Als Zweites prägte sich mir ein kurzer Satz am Anfang des Johannes-Evangeliums ein, wo der Autor in einer Art theologischer Zusammenfassung eine Vorab-Deutung seiner Jesus-Geschichte gibt. Da heisst es am Schluss: „… Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit (aber) ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh. 1.17).
Das fand ich spannend: offenbar genügt das Gesetz nicht, um irgendwie gedeihlich mit sich selbst und den anderen zu leben. Das hatte ich bereits verstanden: allein Gesetzen zu folgen macht einen oft blind für das, was in einer konkreten Situation wirklich gebraucht wird. Offenbar braucht es etwas anderes, etwas über das Gesetz hinaus gehendes, um richtig handeln zu können, und die Jünger haben das bei Jesus gefunden: Gnade und Wahrheit.
Nun ist „Wahrheit“ (noch immer) ein so grosser Begriff, dass ich nicht verstand, welche Wahrheit der Unzulänglichkeit des Gesetzes abhelfen sollte. Aber mit Gnade konnte ich etwas anfangen. Und nun müssen wir die Theologen verzeihen, dass ich als 12-jähriger katholischer Ministrant beim Wort „Gnade“ noch nichts von der Gnadenlehre Martin Luthers und deren theologischer Differenzierungen wusste. Sondern ich habe das einfach wörtlich verstanden: mit dem Gesetz kann man vieles regeln; es ist gut eines zu haben. Wenn aber die Anwendung der Regeln in einer konkreten Situation offensichtlich unangemessen ist oder gar zu Unrecht oder Unheil führt, dann sollte man „Gnade vor Recht“ walten lassen. Das konnte ich mir vorstellen. Denn „nicht die Menschen sind für das Gesetz gemacht, sondern das Gesetz für die Menschen“.
Diese einfache Option für den einzelnen Menschen in seiner konkreten Situation begleitet mich bis heute, ich habe keine bessere Orientierung für die Frage gefunden, wie man der möglichen Unangemessenheit und Unerbittlichkeit von Regeln und Gesetzen entgehen kann. Nicht die unbedingte Anwendung von Regeln macht die Welt besser, sondern die bedingte, am Einzelfall gebrochene Anwendung und notfalls Aussetzung von Regeln ist nötig, um die Arbeit einer Verwaltung richtig, also an den realen Menschen orientiert zu verrichten. Wenn Sie bis hier her mitgehen können, dann lässt sich daraus eine wesentliche Herausforderung ableiten, die an staatliche Mitarbeiter in Verwaltungen gestellt ist.
Diese Grundhaltung, die Anwendung einer Regel immer im Einzelfall zu prüfen und gegebenenfalls bereit zu sein, die Regel zu verbiegen oder gar auszusetzen, verlangt, dass der Mitarbeiter in der Verwaltung eine persönliche Meinung entwickelt und die Abweichung von der Regel gegebenenfalls selbst verantwortet.
Ich weiß, dass damit ein ganz grosses Abgrenzungsproblem aufgetan wird: Welcher Mitarbeiter soll welche Regeln in welchen Fällen auch mal abbiegen oder aussetzen? Das lässt sich eben nicht allgemein und im Voraus beschreiben. Dazu braucht es ein Mass an moralischer Substanz in jedem einzelnen.
Ich bin mir aber sicher, dass es keinen humanen Weg um diese Anstrengung und Unsicherheit herumgibt. Entweder man befolgt Regeln bedingungslos und „ohne Ansehen der Person“, oder man erlaubt sich, die Person und ihre konkrete Situation doch anzusehen und zu prüfen, ob was man gerade ausführen soll, zu einer guten Lösung führt.
Mein Fazit ist also: ohne persönliche Verantwortung und Anstrengung beim Anwenden von Regeln gibt es kein humanes Verwaltungshandeln. Und Mitarbeiter, die keine Verantwortung tragen wollen, oder Vorgesetzte, die eigenverantwortliches Handeln von Mitarbeitern unterlaufen oder verbieten wollen, machen aus einer humanen Verwaltung eine wörtlich Rücksicht-lose Verwaltung.
Hier bietet sich ein kurzer Rückgriff auf die Frage nach der Neutralität von Verwaltungshandeln an: Für mich persönlich gründen diese Überlegungen zu einem modernen, humanen
Verwaltungshandeln in der dezidiert katholisch-christlichen Kultur, in der ich in meiner Familie aufgewachsen bin, ohne es zu wollen. Ich habe mir mein Verständnis von guter Verwaltung auf dem Hintergrund dieser Kultur so erarbeitet. Insofern muss ich eingestehen: nein, ich bin kein säkular agierender Beamter, mein Handeln im Dienst ist immer dort, wo aus eindeutigen Situationen durch genaues Hinschauen vieldeutige werden, geprägt von einer christlichen Weltsicht. Ich habe keine andere.
Ob Menschen aus anderen Denksystemen zum selben Ergebnis kommen, wenn sie Verwaltung ausüben, dazu habe ich keine prägenden Erfahrungen. Dass Gnade vor Recht ergehen kann, ist allerdings nicht nur auf christlichem Hintergrund zu beobachten.
Und andererseits gibt es in Geschichte und Gegenwart des Christentums genug gnadenlose Regelanwendung im christlichen Raum; so, dass ich am Ende nur sicher sagen kann:
Der säkulare Staat kann immer nur in der abstrakten Herleitung seiner Gesetzgebung säkular sein, im konkreten Einzelfall staatlichen Handelns braucht es immer die Bereitschaft zu persönlicher verantwortungsvoller Haltung von Staatsdienern und Bürgern, um die Last von Freiheit und Vielfalt zu tragen und der Versuchung totalitärer Einheit zu widerstehen.
Schlussgedanke: Die Gefährder des säkularen Staates Ich möchte zum Abschluss die Anfangsfrage nochmal aufnehmen: gibt es heute eine Gefährdung des freiheitlich-säkularen Staates, und wenn ja durch wen?
Lassen Sie uns rekapitulieren: Der säkulare Staat gewährt weltanschauliche Freiheit. Jeder kann den eigenen Lebenssinn und die eigene Ethik frei wählen und selbst entfalten. Das ist der Kern unseres westlichen Individualismus: Jeder kann auf seine eigene Façon selig werden. Auf Dauer und in der breiten Masse kann das allerdings nur gelingen, wenn jeder Einzelne akzeptiert, dass es in dieser Gesellschaft außer um die eigene
Selbstentfaltung auch um die Entfaltung der anderen geht, sowie um die Sicherung eben des Staatswesens, das jene Freiheit gewährleistet. Der Bürger im säkularen Staat muss anerkennen, dass seine Selbstentfaltung auf diesem konkreten Staatswesen basiert. Daher sollte die Erhaltung und Entwicklung dieses Staatswesen im Zweifelsfall Vorrang haben vor seiner individuellen Selbstentfaltung.
Der säkulare Staat braucht die Mitwirkung des Einzelnen am Gemeinwesen mindestens darin, dass die eigene Selbstentfaltung begrenzt wird durch die Entfaltung der Anderen sowie durch die Selbsterhaltung des Staates. Einfach gesagt: Es geht nicht nur um Dich, es geht manchmal auch um etwas grösseres. Dieses Einverständnis-und-Handeln ist nun für weltanschaulich, sei es in einer
Religion oder in einer Ideologie, gebundene und geübte Menschen ein bekanntes Muster und kaum fraglich: sie haben in ihrer persönlichen Lebensführung eine Haltung gefunden, wo sie bereits ihre individuellen Strebungen mit einem größeren Ideensystem in Einklang zu bringen. Sie haben in ihrem privaten Raum bereits eingeübt, dass es nicht nur um den einzelnen geht, sondern auch manchmal um etwas grösseres.
So gesehen bringt möglicherweise ein islamisch geprägter Bürger ganz gute Voraussetzungen mit, um Bürge für das Fortbestehen des säkularen Staates zu sein. Infrage gestellt wird der Anspruch des säkularen Staates auf Selbstbegrenzung und Mitwirkung des Einzelnen heute am meisten durch jene, die sich keinem anderen Ziel als der Optimierung ihrer eigensten persönlichen Verhältnisse erpflichten.
Wer seine Freiheit an nichts anderes bindet als an sein ganz alleiniges Wohlergehen, ohne Rücksicht auf andere oder das Gemeinwesen, der ignoriert die Grundlagen seiner Handlungsfreiheit.
Ich meine, dass der neoliberal entfesselte Kapitalismus unsere soziale Marktwirtschaft aufgelöst hat, und eben jene Gewinnsucht und selbstbezogene Lebenshaltung züchtet, in der kein anderer Wert mehr existiert als die materielle Bereicherung meiner selbst. Die Beschreibung aller Lebensbereiche als Kosten-Nutzen-Verhältnisse, die Reduktion aller Beziehungen auf Anbieter-Kunden-Relationen schafft eine totale Ökonomisierung unserer Lebenskultur. Was nicht ökonomisch beschreibbar ist, wird nicht mehr wahr genommen. Persönliche Freiheit und ihre Garantie durch einen säkularen Staat werden dabei zu einer variablen Grösse bei der Optimierung von Renditen.
An dieser inneren Werte-Entleerung einer Gesellschaft kann ein freiheitlicher säkularer Staat zugrunde gehen und sich in ein totalitäres System wandeln. Diese Möglichkeit, vor der Härte des Kapitalismus vermeintlich zu fliehen, haben wir in Deutschland im National-Sozialismus durchlebt.
Diese Werte-Entleerung unserer Gesellschaft vermeiden wir aber nicht durch Angst vor fremden Zuwanderern - diese bringen meist eine eigene hohe Werte-Orientierung mit. Sondern wir vermeiden diese innere Leere durch eine entschlossene Abkehr von der galoppierenden Ökonomisierung unseres Denkens und Handelns.
Wir müssen tatsächlich zurück zu einer Moral, zu einem Wertesystem, in dem auch Nicht-Messbares und Nicht-Zählbares einen hohen Wert hat und unser Handeln lenken kann. Das heisst: Anerkennung der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Objektivität und Neutralität, zurück zum Eingeständnis unserer grundsätzlichen Subjektivität, und damit zur Anerkennung des einzigen Regulativs subjektiver
Entscheidungen: der persönlichen Verantwortlichkeit aus der moralischen Gebundenheit des Einzelnen an ein ganz persönliches oder ein gesellschaftlich vermitteltes Wertesystem.
Freiheit schafft Vielfalt, und Vielfalt ist schön, aber anstrengend. Diese Anstrengung freudig auf uns zu nehmen, ist der Preis unserer Freiheit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.