„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“
Von Franz Reimer
Die Bedeutung des Böckenförde-Diktums in der postsäkularen Gesellschaft
- Einführung
- Im Kanton Basel-Landschaft müssen Schülerinnen und Schüler ihren Lehrerinnen und Lehrern von Rechts wegen die Hand reichen. Nach § 64 Bildungsgesetz des Kantons tragen Schülerinnen und Schüler
„b. […] mit ihrem Verhalten zum Erfolg des Unterrichts sowie der Klassen- und Schulgemeinschaft bei;
- besuchen den Unterricht und die Schulveranstaltungen lückenlos und begründen allfällige Abwesenheiten;
- halten die Weisungen der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulbehörden ein und tragen zu Material und Einrichtung Sorge.“
Prof.Dr. Franz Reimer, Gießen
Daraus ergibt sich nach Auffassung der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion des Kantons die Rechtspflicht von Schülerinnen und Schülern, weiblichen Lehrpersonen die Hand zu reichen.[1] Der Fall eines Brüderpaares, der zum Erzürnen vieler Stimmen der Lehrerin den Handschlag verweigert hat, ging vor einigen Wochen auch durch die deutschen Medien. Er beleuchtet schlaglichtartig, vor welchen Fragen sich eine postsäkulare Gesellschaft gestellt sieht. Zu diesen Fragen gehört folgende: Handelt es sich hierbei um einen Versuch des Kantons, die Voraussetzungen zu garantieren, aus denen er lebt (sie hören die Anspielung auf die Böckenförde-Formel heraus)? Diese Frage provoziert eine nächste: Wollen wir das? Können wir das wollen?
Wollen, müssen wir gar unser postsäkulares Gemeinwesen dadurch aufrechterhalten, dass wir Pflicht zu Integration aufstellen, die man als Pflicht zum Wohlverhalten bezeichnen könnte?
- Unter „postsäkular“ verstehe ich dabei eine Gesellschaft, die nicht mehr dem Missverständnis erliegt, Religionen würden (jedenfalls im öffentlichen Raum) immer bedeutungsloser, weil der von Max Weber beschriebene Rationalisierungsprozess voranschreite. Das trifft nicht einmal mehr für westliche Gesellschaften, umso weniger für die Welt insgesamt, zu. Als „postsäkular“ lässt sich demgegenüber eine Gesellschaft bezeichnen, in der die Bedeutung von Religion, richtiger: Religionen, auch und gerade für das öffentliche Leben immer deutlicher wird. Diese Erkenntnis ist, wie mir scheint, herrschend geworden.[2] Für Europa schließt sie die Anerkennung einer grundlegenden Pluralität der Religionen und Weltanschauungen ein.
- Der Staat und seine Voraussetzungen
- Der vielzitierte Satz, dem unsere Tagung gilt, ist einem 1964 gehaltenen verfassungsgeschichtlichen Vortrag über „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ entnommen (der 1967 als Aufsatz veröffentlicht wurde). Er lautet:
„So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und in ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“[3]
- Die Frage, um die es Böckenförde hierbei geht, ist die Frage nach dem Bestand des Staates: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?“[4] Im Zentrum seines Interesses steht hier also der Bestand des Staates.
- Prämisse schon der Frage ist, dass der Staat der (oder jedenfalls einer gewissen) Homogenität in der Gesellschaft bedarf; der Begriff fällt auf engem Raum vielfach. Für Böckenförde haben die Menschenrechte individualisierende, d.h. potentiell separierende, die Gesellschaft auseinandertreibende Wirkung. Er geht augenscheinlich nicht davon aus, dass die Menschen den Staat aus wohlverstandenem Eigeninteresse – als rationale Nutzenmaximierer – stützen und tragen. Seine Frage richtet sich dementsprechend auf eine zeitgemäße „Homogenitätsgrundlage“[5] für die Gesellschaft.
- Man kann die in der Böckenförde-Formel kondensierte Beobachtung – mit Jürgen Kaube, dem FAZ-Mitherausgeber und Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015 – für eine bare Selbstverständlichkeit halten: „Schlechterdings alles lebt von Voraussetzungen, die es selbst nicht garantieren kann. Nichts Irdisches ist causa sui […]“.[6] Immerhin muss man sich – im Zeitalter des Etatismus – bewusst sein, dass dies eben auch für den Staat gilt, dass dieser nur ein sterblicher Gott ist.
- Böckenförde erwägt unterschiedliche Wege aus dem von ihm aufgezeigten Dilemma. Einer davon ist die Wohlfahrtsstaatlichkeit:
„Der Staat kann versuchen, diesem Problem zu entgehen, indem er sich zum Erfüllungsgaranten der eudämonistischen Lebenserwartung der Bürger macht und daraus die ihn tragende Kraft zu gewinnen sucht. Das Feld, das sich damit eröffnet, ist allerdings grenzenlos. Denn es handelt sich dann nicht mehr darum, daß der Staat vorsorgende, sozialgestaltende Politik betreibt, die das Dasein seiner Bürger sichern soll – diese Aufgabe ist für ihn unverzichtbar –, sondern daß er sein ‚Um-willen‘, seinen ihn legitimierenden Grund eben darin zu finden sucht. Der Staat, auf die inneren Bindungskräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt, wird dann auf den Weg gedrängt, die Verwirklichung der sozialen Utopie zu seinem Programm zu erheben. Man darf bezweifeln, ob das prinzipielle Problem, dem er auf diese Weise entgehen will, dadurch gelöst wird. Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise?“[7]
- Mehr Erfolg traut Böckenförde in einer Äußerung jüngeren Datums staatlicher Kulturpflege, insbesondere dem durch Schule zu erfüllenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu: Weil weder Religion (in Zeiten verdunstenden Glaubens) noch Zivilreligion (als potentiell freiheitsbedrohende Ideologie) ein belastbares einigendes Band für die Gesellschaft sein könnten,
„ist der säkularisierte Staat darauf verwiesen, vorhandene und gelebte Kultur zu stützen und, soweit er vermag, zu schützen. Er muß um seiner selbst willen Kulturpflege im eigentlichen Sine betreiben, freilich nicht auf Kosten, sondern im Rahmen seiner Freiheitsordnung. Die Handlungsfelder dafür sind zahlreich. Vor allem der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag kommt in Betracht, dessen Wahrnehmung heute verbreitet darniederliegt…“[8]
Mit anderen Worten bedarf der „Aufbau ethisch-sittlicher Grundhaltungen und einer verantwortlichen Wahrnehmung der Freiheit der Stärkung und Ermutigung, einer darauf hin orientierten Erziehung; und dies nicht allein in der Familie, sondern ebenso in der Schule, und in der Schule umso mehr, je mehr die Erziehungskraft und -bereitschaft in der Familie, was Besorgnis erregend ist, abnimmt und je pluraler die Gesellschaft ist […].“[9]
Hierin dürfte allerdings eine Überforderung der Schule liegen, die mit immer mehr Erwartungen von allen Seiten konfrontiert wird.
Gestatten Sie mir eine Nebenbemerkung nach Bayern hin: Die Bayerische Staatsregierung hat im Mai einen Gesetzentwurf für ein Bayerisches Integrationsgesetz vorgelegt.[10] Der Gesetzentwurf enthält eine lange Präambel (in der Bundesrepublik, anders als in der DDR, eine große Ausnahme) und in Art. 1 eine Regelung über „Integrationsziele“. Danach ist es Ziel des Gesetzes, Flüchtlinge „auf die im Rahmen ihres Gastrechts unabdingbare Achtung der Leitkultur zu verpflichten und dazu eigene Integrationsanstrengungen abzuverlangen (Integrationspflicht).“ Die dann folgenden Vorschriften enthalten m.E. zum Teil hilflose, zum Teil verfassungsrechtlich unhaltbare Versuche, einen Wertkanon zu erzwingen (bspw. Art. 13 über die „Achtung der Rechts- und Werteordnung“). Wir laufen hierbei Gefahr, neben die Rechtsordnung unter dem Etikett einer „Werteordnung“ auch eine Gesinnungsordnung zu stellen, für die sich letztlich ebenfalls der Staat verantwortlich fühlt, also die Voraussetzungen garantieren zu wollen, aus denen der freiheitliche Staat lebt, und dabei seine Freiheitlichkeit im Sinne des Böckenförde-Diktums aufzugeben.
- Ich möchte dieser nach wie vor etatistischen Perspektive den Vorschlag entgegenhalten, dass wir als Zivilgesellschaft – als Einzelne und als Vereine, Verbände, Stiftungen – gerade in der postsäkularen Gesellschaft für die Überzeugungen und Erfahrungen werben, die ein gelingendes Leben und ein gedeihliches Zusammenleben ermöglichen oder begünstigen. Warum eigentlich soll der Staat auch hierfür verantwortlich sein?
Erlauben Sie mir einen kurzen Seitenblick: Möglicherweise standen die amerikanischen Verfassungsväter vor ähnlichen Problemen wie wir heute, vor einer außerordentlich heterogenen Gesellschaft. Die Autoren der berühmten „Federalist Papers“ haben diese Probleme offenbar sehr klar gesehen:
„they knew that a mechanically tense, self-balancing system did not activate or maintain itself. Its success would depend in the end on the character of the people who managed it and would allow themselves to be ruled by it - their reasonableness, their common sense, their capacity to rise above partisan passions to act for the common good and remain faithful to constitutional limits.”[11]
M.a.W: Ein Staat lebt vom Charakter derjenigen, die ihn betreiben – von ihrer Vernunft, ihrem Menschenverstand, ihrer Fähigkeit, sich über partikulare Leidenschaften zu erheben, um für das Gemeinwohl zu handeln, und auch von ihrer Treue zur Verfassung.
- Ich möchte so zuspitzend zusammenfassen: Der Staat lebt von der Zivilgesellschaft, von Akteuren, die sich einbringen. Man könnte geneigt sein, die Stärke der Zivilgesellschaft für die Schwäche des Staates zu halten und umgekehrt. Ein solches Nullsummenspiel beschreibt unsere Situation aber nicht richtig. Stark ist ein Staat, der der Zivilgesellschaft Entfaltungsraum gibt; und er wird durch die Stärke der Zivilgesellschaft weitere Kraft gewinnen. Sicher kann der Staat die Stärke der Zivilgesellschaft nicht garantieren; aber er kann sich entscheiden, ob er sie hemmen und strangulieren oder aber wertschätzen und fördern will. Zur Verfügung stehen ihm zahlreiche Mittel, bis hin zum Steuer- und Gemeinnützigkeitsrecht. Aus meiner Sicht hat uns die sog. Flüchtlingskrise die ungeheure Stärke der Zivilgesellschaft in Deutschland und zugleich die Tatsache vor Augen geführt, dass hier kein Widerspruch zu einem starken, handlungsfähigen Staat vorliegt, sondern ein Ergänzungsverhältnis.
III. Die Zivilgesellschaft und ihre Voraussetzungen
- Lassen Sie mich abschließend folgende Frage stellen: Lebt auch die Zivilgesellschaft von Voraussetzungen, die sie nicht selbst garantieren kann? Die Frage stellen, heißt: sie bejahen. Nichts lebt – um den Gedanken Jürgen Kaubes aufzugreifen – aus sich selber, hat in sich selbst Bestand.
- Was bedeutet das für Staat und Gesellschaft? „Zivilgesellschaft“ ist das Etikett für uns alle, für uns, die wir den Staat legitimieren oder nicht legitimieren, die wir uns engagieren oder nicht engagieren. Auch insofern wir aus unserem Schneckenhaus hervorkriechen und unsere Erwartungen artikulieren. Das kann ganz simpel sein. Lassen Sie mich anekdotisch einflechten, woran ich denke. Ich lebe mit meiner Familie in der Nähe der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, einem der deutschlandweit größten Auffanglager für Flüchtlinge, und der Bus, mit dem ich zur Universität fahre, war zeitweise überfüllt mit Flüchtlingen. … Ich glaube, dass es gut ist, wo immer möglich von Mensch zu Mensch Erwartungen und Hoffnungen zu artikulieren, anstatt sie hinunterzuschlucken oder als Forderung an „die Politik“ zu richten.
- Und das führt uns zu einem letzten Punkt: Die Stärke der Zivilgesellschaft liegt sicher in der Stärke ihrer Akteure, d.h. in unserer Identität als Personen – aber auch wir sind abhängig, im letzten wohl von der Zuneigung anderer. Vielleicht ist es auch im Kontext der postsäkularen Gesellschaft gut, sich dies immer wieder gegenseitig in Erinnerung zu rufen: Niemand von uns lebt aus sich selber, hat in sich selbst Bestand.
[1] Rechtsabklärung. Betreff: Schüler verweigern Lehrerinnen den Handschlag. Bearbeitet von: Stab Recht, Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion. Datum: 14. April 2016 (https://www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/ekd/mitekd/haendedruck_rechtsabklaerung.pdf , abgerufen 19.6.2016).
[2] Charles Taylor, A Secular Age, 2007, S. 534: „a time in which the hegemony of the mainstream master narrative of secularization will be more and more challenged.”; ähnlich Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, S. 13; u.a.m.
[3] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: _ ders_., Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl. 1992, S. 92 (112); auch abgedruckt in: ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, S. 43 (71). Kursivierung im Original.
[4] Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Fn. 3), S. 111 (bzw. S. 69).
[5] Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Fn. 3), S. 112 (bzw. S. 70).
[6] Jürgen Kaube, Das Böckenförde-Paradox. Ökologisch, in: FAZ Nr. 250 v. 27.10.2010, S. N3.
[7] Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Fn. 3), S. 71 f.
[8] Böckenförde, Der säkularisierte Staat (Fn. 3), S. 31; ähnlich ders., „Der freiheitliche säkularisierte Staat…“, in: Susanna Schmidt/Michael Wedell (Hrsg.), „Um der Freiheit willen…“. FS für Burkhard Reichert, 2002, S. 19 (21).
[9] Böckenförde, „Der freiheitliche säkularisierte Staat…“ (Fn. 8), S. 19 (21).
[10] LT-Drs. 17/11362 v. 10.5.2016.
[11] Bernard Bailyn, To Begin the World Anew: The Genius and Ambiguities of the American Founders, New York 2003, S. 123; hier zit. n. Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006 (Reprint 2009), S. 225.