Bedingungen des Zusammenlebens in einer heterogener werdenden Gesellschaft
Von Werner Schnatterbeck
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
und ich wage noch zu sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ein weiteres Mal verdienstvoll, dass die Kulturinitiative eine umfangreiche Tagung zu einem grundlegenden Thema anbietet. Und es ist wieder Herr Keßler, dem vor allem Organisation und Konzeption zu verdanken sind.
So erlaube ich mir als stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der Bruchsaler Bildungsstiftung, unserem
Rainer-Blickle- Preisträger des Jahres 2012, sicher auch in Ihrem Namen ein herzliches Dankeschön für dieses
ehrenamtliche Engagement zu sagen.
Ich glaube, lieber Herr Kessler, dass sie mit ihrer Person und ihrem Tun ein Beispiel für Voraussetzungen sind, die ein
freiheitlicher Staat und eine humane Gesellschaft als einen Baustein ihres Fundamentes benötigen.
Meine Damen und Herren!
**Welche (An-)Fragen ergeben sich für Gemeinden und Schulen im Lichte des Böckenförde-Diktums und welche
stabilisierenden Beiträge können von dieser Seite aus erfolgen?
**
Dass die anspruchsvolle Vermittlung von Wissen und fachlichen Kompetenzen durch die Schule in einer aufgeklärten
Gesellschaft und im Rahmen einer demokratischen staatlichen Ordnung Basis für deren Bestand, Fortentwicklung und auch
für Wohlstand sind, dürfte unbestritten sein.
Darum geht es allerdings auch nicht.
Denn das ist durch Grundgesetz, Landesverfassung, Schulgesetz, durch Lehr- und Bildungspläne sowie durch Verordnungen
der Institution Schule verpflichtend aufgegeben, was in der Folge zur Schulpflicht mit einer mindestens zehnjährigen
Dauer führt.
Gemeint im Sinne des Böckenförde-Diktums ist die Frage, inwieweit die Schule an der Bildung des „sozialen Kapitals“ beteiligt sein soll, kann und darf.
Für Böckenförde ist die Perspektive, dass durch die christliche Religion dem Staat ein „einigendes Band“ zuwachsen
kann, „nicht eben ermutigend“. Er hinterlegt seine Skepsis mit den aus dem Statistischen Jahrbuch 2006 entnommenen
Zahlen getaufter Christen in Deutschland, deren Anteil zum Beispiel in den neuen Bundesländern bei Kindern und
Jugendlichen um die 15 % lag.
Auch ein Rückgriff auf die Zivilreligion erscheint Böckenförde einerseits “ kaum ertragreich“ und in der an Rousseau
orientierten Version wegen der Einschränkung von Freiheitlichkeit als „hoch problematisch“.
Bleibt die vorhandene und gelebte Kultur.
Hierzu führt er in seiner Münchener Rede aus dem Jahr 2006 aus:
„Der säkularisierte Staat ist heute und in Zukunft zunehmend auf vorhandene und gelebte Kultur als die Kraft angewiesen,
die eine relative Gemeinsamkeit vermittelt und ein die staatliche Ordnung tragendes Ethos hervorbringt.“
Deshalb müsse die vorhandene und gelebte Kultur gestützt und geschützt werden.
Er sagt auch wie:
„Vor allem der schulische Erziehungs-und Bildungsauftrag kommt (hierfür) in Betracht, dessen Wahrnehmung heute
verbreitet darnieder liegt, und ebenso, um nur dies noch zu nennen, der Erhalt und die Förderung **
geisteswissenschaftliche**r Bildung und Forschung die heute vom ökonomisch geleiteten Effektivitätsdenken
überwältigt zu werden drohen.“
Die Schule, um bei ihr zu bleiben, hat wie so oft eine Schlüsselstellung.
Zu Recht denke ich.
Schule darf sich nicht zufrieden geben mit einem eng gefassten Bildungsbegriff. So steht auch Paragraf 1 des Schulgesetzes unter der Überschrift „Erziehungs-und Bildungsauftrag der Schule“.
Obgleich bereits Johann Friedrich Herbart im Jahre 1806 erkannte, dass Unterricht und Erziehung in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen, hatte der Deutsche Bildungsrat 1970 mit dem „Strukturplan für das Bildungswesen“ einer einseitig lernziel-theoretisch ausgelegten Verwissenschaftlichung der Schule in allen Altersstufen Vorschub geleistet.
Herbart hatte dagegen Anfang des 19. Jahrhunderts gefordert, dass Moralität und Sittlichkeit Einzug in die Schulen des Landes nehmen müssen und die gelehrten wissenschaftlichen Sachverhalte auch mit einer sittlichen Komponente im Handeln einhergehen müssen.
Eine UNESCO-Expertenkommission kam im Februar 1970 zum Schluss, das Bildungssystem „ werde den Erfordernissen unserer Gesellschaft immer weniger gerecht, weil es den Menschen die Orientierung an den übergeordneten ethischen Herausforderungen unserer Zeit vorenthalte und die Fragen übersehe, von deren Beantwortung die Zukunft der Menschheit abhängen könnte.
In der Folge traten Bewegungen auf dem Plan, die unter den programmatischen Überschriften „Wiedergewinnung des ** Erzieherischen**“ und „Mut zur Erziehung“ eine bildungspolitische Kurskorrektur einforderten.
Mit Erfolg wie wir wissen, denn die Bildungspläne von 1984 folgten in Baden-Württemberg dem Paradigma „Erziehender Unterricht“.
Sowohl bildungspolitisch als auch schulpädagogisch wird bis zum heutigen Tag immer wieder die erzieherische Dimension von Unterricht und Schule mitbetont.
Marian Heitger hat auf den tiefen inneren Zusammenhang von Unterricht und Erziehung aufmerksam gemacht.
Ich zitiere:
„Weil Wissen und Haltung zusammengehören, lassen sich Unterricht und Erziehung nicht trennen. Wo diese Relation auseinandergerissen wird, da verkommt Erziehung zu unverbindlichem Moralisieren, so wie der Unterricht ohne Erziehung zu Vielwisserei und unverbindlichem Intellektualismus.“
Ich denke, dass dieses Verständnis von Unterricht und Schule sehr nahe bei dem liegt, was Böckenförde als notwendig
erachtet, um in einem freiheitlich, säkularisierten Staat eine zur Neutralität verpflichtete Bildungseinrichtung zu
wissen, die als Erfahrungs- und Reflexionsraum Werte, Normen und Haltungen thematisiert, kritisch bedenkt und
erlebbar macht.
So kann ein Beitrag zu einer „relativen Gemeinsamkeit“, zu einem „tragenden Ethos“ geleistet werden.
Der Theologe, Ökumeniker, Ethiker Hans Küng spricht an dieser Stelle von einem „minimalen Grundkonsens“, auf den die plurale Gesellschaft angewiesen ist. Ohne einen solchen, den das demokratische Staatswesen aber nicht vorschreiben darf, „ ist weder in einer kleineren noch in einer größeren Gemeinschaft ein menschenwürdiges Zusammenleben möglich“.
Und nicht nur das. Küng ist ganz nah bei Böckenförde, wenn er warnt:
„Ohne einen solchen Grundkonsens, der immer neu im Dialog zu finden ist, kann auch eine moderne Demokratie nicht funktionieren, ja, geht sie – wie etwa die Weimarer Republik von 1919-1933 bewiesen hat – in einem Chaos oder aber in einer Diktatur unter.“
Hans Küng geht aber indessen einen wichtigen Schritt weiter, indem er nicht wie Böckenförde im Abstrakten bleibt, wir erinnern uns, dass dieser von „ relativer Gemeinsamkeit“ und „ tragendem Ethos“ spricht, sondern mit dem Dialog ein Instrument benennt, dass zielführend ist, um sich des Grundkonsens‘ immer wieder von Neuem zu versichern.
Außerdem hat er für das schützenswerte Gut Demokratie beziehungsweise freiheitlich-demokratischer Staat drei
Antworten parat, das ist sozusagen die materiale Seite die Böckenförde eher scheut, nämlich erstens, dass der innere
Friede eines Gemeinwesens die Übereinstimmung voraussetzt, gesellschaftliche Konflikte gewaltfrei lösen zu wollen,
zweitens, dass Wirtschafts- und Rechtsordnungen darauf angewiesen sind, dass man überhaupt gewillt ist, sich an eine
bestimmte Ordnung und Gesetze zu halten
und drittens, dass die diese Ordnungen tragenden Institutionen – wir sprechen vom freiheitlich-demokratischen Staat –
zumindest stillschweigende Akzeptanz erfahren.
Nach diesem kurzen Exkurs kehre ich wieder zur Schule zurück.
Ausgangspunkt für diese Aufweitung war die Aussage, dass Böckenförde in meinem Verständnis eine Schule als
Bildungseinrichtung nahelegt, die unter anderem ein Erfahrungs-und Reflektionsraum für die kritische Auseinandersetzung
mit Werten und Normen ist und in dem in der Folge individuell Haltungen erwachsen können.
Heute haben die Werte Hochkonjunktur.
Sie werden in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen geradezu inflationär eingefordert.
Schritt halten kann damit lediglich das Phänomen Glück, aber das ist zugegebenermaßen eng mit dem Werte-Thema verknüpft,
was uns bereits die Philosophen der Antike lehrten.
Gefühlt leiden wir nicht an einem Mangel an Wertappellen, sondern an einem Defizit gelebter Werte, wie ich vor nicht allzu langer Zeit an gleichem Ort meinen Eindruck wiedergab.
In der Wirtschaft, im Berufsleben, im Straßenverkehr, in der Politik, im Sport, im Alltagsleben – beim Bäcker um die
Ecke – meinen wir häufig festzustellen, dass der Unverschämte den Ton vorgibt, der Stärkere sich durchsetzt, dass in der
Realität das Faustrecht gilt und der Blick auf das Ganze eher unterentwickelt ist.
Es scheint oftmals ein hohes Maß an Aggressivität und Egoismus vorzuherrschen.
In ihrem Band „Erziehen zur ethischen Verantwortung“ plädieren der Philosoph Claus Günzler und der Soziologe
Gotthard Teutsch gerade deshalb für mehr pädagogische Akzente in der Schule.
Sie drücken dies so aus:
„Wir müssen den Menschen … durch Erziehung dazu befähigen, dass er den in ihm angelegten Selbsterhaltungstrieb so zügelt, dass dieser nicht zum hemmungslosen Durchsetzungswahn auf Kosten anderer entarten kann …“
Der Erziehung sind Werte hinterlegt, die in individueller und sozialer Perspektive aus meiner Sicht vier Zielen
dienen sollen:
1. der Orientierung in einer pluralistischen und vom Einzelnen oftmals als wertunsicher empfundenen Gesellschaft
2. der Entfaltung der Persönlichkeit, oder anders ausgedrückt, dem Freilegen humaner Potenziale
3. der Stärkung von Mitgestaltungsqualifikationen, in einem freiheitlich demokratisch verfassten Staat und einer so
geprägten Gesellschaft
sowie
4. dem Aufbau und der Erweiterung sozialer Kompetenz.
Das, was mit einer Erhöhung der sozialen Kompetenz gemeint ist, haben beide Autoren in einer sozial- ethischen Maxime zum Ausdruck gebracht:
„Handle so,
dass der Gleichgestellte dich gerne zum Partner hat,
dass der Überlegene dich respektiert,
dass der Unterlegene auf Rücksicht und Verständnis rechnen kann,
dass der Schwache ihn dir einen unerschrockenen Helfer findet,
auch gegen denjenigen, der dir gleichgestellt oder gar überlegen ist.“-
Wie kann nun Wert-Erziehung in der Schule betrieben werden und welche Werte dürfen in einer zur Neutralität verpflichteten Schule vermittelt werden?
In Paragraf 1, Abs. 2 des Schulgesetzes in Baden-Württemberg sind folgende Werte genannt:
Verantwortung vor Gott sowie Eigenverantwortung christliche Nächstenliebe, Menschlichkeit, Friedensliebe, Liebe zu Volk
und Heimat Achtung der Würde und der Überzeugung Anderer Leistungswillen soziale Bewährung Anerkennung der Wert und
Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Diese Wertvorgaben sind im historischen Kontext durchaus nachvollziehbar, müssen aber im Lichte der Entwicklung und der
Gegenwart gedeutet werden.
Wird dies nicht geleistet vom Schulrecht und von der Schulpädagogik bleiben sie gedrucktes Papier, werden sie als
feierliche Präambel zu einem Gesetz hingenommen, dass ansonsten sehr konkret auf Schularten, Schulträgerschaft,
Schulaufsicht, schulische Gremien, Schulleitung, Elternbeteiligung, Schülermitverantwortung, Schulpflicht und
Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen eingeht.
Die von mir erwähnte Aufgabe der zeitgemäßen Interpretation kann ich im Rahmen dieses Referates nicht erfüllen, aber auf
zwei Punkte möchte ich dennoch eingehen.
Das Gebot der Achtung der Würde Anderer kann auch im Jahre 2016 nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt mit den Worten „ Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Die Grundrechte und insbesondere der Artikel von der Würde des Menschen wurden von den Verfassungsväter des parlamentarischen Rates nach den Erfahrungen der Weimarer Republik bewusst an die erste Stelle des Grundgesetzes gesetzt.
Carlo Schmid sprach gar davon, dass die Grundrechte das Grundgesetz regieren müssen, ihm also Maß geben.
Angesichts unserer gegenwärtigen Situation, die gekennzeichnet ist von fremdenfeindlichen Aktionen, die wir täglich zur Kenntnis nehmen müssen, ist keine Anstrengung zu meiden, um diesem würde-losen Treiben zu begegnen.
Hier haben wiederum die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen ihre besonderen Aufgaben und Möglichkeiten.
Dies führt mich zu meinem zweiten Punkt.
In Paragraf 1 des Schulgesetzes von Baden-Württemberg ist im zweiten Absatz gefordert, „die notwendige Urteils-
und **Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln.“
**Damit sind wir beim Kern eine richtig verstandenen Werterziehung.
Nach Michael Silver ist Werterziehung die „ systematische Bemühung, den Schülern zu helfen, ihre persönlichen Werte zu erkennen und zu entwickeln.“
Die Werterziehungstheorie kennt drei Ansätze:
Den materialen: Ziel ist die Vermittlung und Verinnerlichung notwendiger übersubjektiver Normen.
Den formalen: das Kind, der Jugendliche soll eine eigene Bewertungskompetenz und Urteilsfähigkeit entwickeln.
Und drittens: in der schulpädagogischen Debatte zu kurz kommt die Erziehung zum Wertschätzen. Ziel ist eine
grundsätzliche Anerkennung des Mitmenschen und eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Bewerten von anderen, selbst
wenn die durch die anderen vertretenen Werte nicht geteilt werden.
Ich möchte mich zu allen drei Ansätzen bekennen, denen gemein ist, dass sie über die folgenden Grundlagen verfügen, um wirkungsvoll zu sein:
Über den Unterricht
Über das Vorbild und
Über die Aufforderung zur Selbsttätigkeit.
Für die materiale Werterziehung ist es legitim und pädagogisch angezeigt, für bestimmte Werte in der Schule einzutreten
und zu werben, indem deren Relevanz für die eigene und gesellschaftliche Existenz erkannt und durch entsprechende
Gestaltung des Lebensraumes Schule auch erfahrbar gemacht werden kann.
Zwar kann es in einer sich wandelnden, freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft keinen Kodex gültiger Werte geben,
gleichwohl gibt es ein Werte-Fundament, in dem sich die kulturellen Entwicklungslinien widerspiegeln. So wird ein
Ergebnis von Unterricht die Erkenntnis sein, dass das Werteerbe Europas auf drei Pfeilern beruht:
Den Werten der Antike, des Christentums und der Aufklärung.
Für die antiken Philosophen ist das höchste und wertvollste Ziel, ein glückliches und erfülltes Leben. Dies ist in deren Verständnis eine Frage des guten Charakters oder anders ausgedrückt der „Hinwendung zum Guten“. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung tragen dazu wesentlich bei.
Die christliche Tradition stellt diesen Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung und Liebe zur Seite.
In der Aufklärung tragen unter anderem die Reformation, der Buchdruck und emanzipatorische Bestrebungen Früchte, die
eine zunehmende Individualisierung begünstigen.
Eigenverantwortung und Selbsttätigkeit werden zu Leitmotiven im Anschluss an Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen.“
Damit kann bei aller geschichtlichen und gesellschaftlichen Dynamik ein tragfähiges Fundament benannt werden, zu dem
unter anderem die erwähnten Kardinaltugenden, die Grundwerte unserer Verfassung, die goldene Regel, der kategorische
Imperativ, der Dekalog, Werte der einfachen Sittlichkeit wie Anständigkeit, Freundlichkeit etc. sowie Werte, die aus der
christlich-abendländischen Tradition erwachsen sind wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben
gehören.
Sich damit kognitiv- reflektierend auseinanderzusetzen, ist eine Aufgabe von Unterricht.
Weitere Dimensionen der Personen spricht das Vorbild an. Es bedarf keiner weiteren Erläuterungen, dass in den
Handlungen der Lehrerinnen und Lehrer, ob Sie das wollen oder nicht, Werthaltungen zum Ausdruck kommen. Diese können auf
Ablehnung und Anerkennung stoßen.
Auch wenn man keine intentionale Erziehungsabsicht verfolgt, sollte man sich deshalb stets seiner Nebenwirkungen bewusst
sein.
Das angemessenste und anspruchsvollste Erziehungsmittel ist die Aufforderung zur Selbsttätigkeit.
Vorgelebte oder anders wahrgenommene Werte sollen dazu herausfordern, sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, um
ihre Gültigkeit zu überprüfen.
Dazu bedarf es vor allem des Dialogs, dem entsprechend Raum zu geben ist, um Wertbegründungen einfordern zu können.
Nur wenn ein eigenes Urteil erwachsen ist, durchaus vom Erziehenden durch Argumentationshilfen unterstützt, ist die
Voraussetzung geschaffen, dass diese Be-wertung zu einer Haltung führt und handlungsleitend wird.
Werte sind objektiv, da man über sie sprechen kann. Ihre Gültigkeit hingegen erhalten Sie nur durch subjektive Urteile.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Ich hatte meine bisherigen Ausführungen so verstanden, dass sie sich auf alle Fächer beziehen, da es kein wertfreies
Wissen gibt.
Konrad Fees vertritt zurecht die Auffassung, dass der Fachlehrer, die Fachlehrerin zugleich auch immer Erzieher ist. Die Moralerziehung stellt daher „ kein die knappe Unterrichtszeit sprengendes Appendix dar, sondern die notwendige erzieherische Ergänzung des Fachunterrichts um den moralischen Aspekt.“
Der österreichische Individualpsychologe Erwin Ringel schreibt in einem Brief:
„Meine Augen haben Dinge gesehen,
die kein menschliches Auge je erblicken sollte.
Gaskammern gebaut von gebildeten (besser: wissenden) Ingenieuren;
Kinder vergiftet von wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten;
Säuglinge getötet von erfahrenen Kinderschwestern;
Frauen und Kinder erschossen und verbrannt von ehemaligen Oberschülern und Akademikern.
Deswegen traue ich der Bildung (besser: der reinen Wissensvermittlung) nicht mehr.
Mein Anliegen ist: Helfen Sie Ihren Schülern menschlich zu werden.
Ihr Unterricht und ihr Einsatz sollte keine gelehrten Ungeheuer hervorbringen, keine befähigten Psychopathen, keine
gebildeten (besser: nur wissenden) Eichmanns.
Lesen, Schreiben und Arithmetik sind nur wichtig, wenn sie dazu beitragen,
unsere Kinder menschlich zu machen.“
Wir sind unweigerlich an Theodor Adorno erinnert, der von der Erziehung zuerst fordert, „ dass Auschwitz nicht noch einmal sei“.
Bildung kennt immer auch die Bedeutung, den (humanen) Wert des Wissensgegenstandes für die Gegenwart und Zukunft.
Ein Mensch ist nicht bereits dann gebildet, wenn er viel weiß, sondern dann, wenn er dem Wissen eine sinnvolle Bedeutung
für seine Existenz und für die Gemeinschaft geben kann.
Natürlich versteht sich der Ethikunterricht im Besonderen als Orientierungshilfe für Heranwachsende auf der Suche
nach verlässlichen Werten im Wertepluralismus. Die Förderung der ethischen Entscheidungskompetenz ist sein zentrales
Anliegen.
Dieses Fach sollte rasch als Ersatzfach zum ordentlichen Unterrichtsfach Religion in allen Altersstufen ausgebaut
werden.
Die Intention des einen Faches darf jedoch nicht die Verantwortlichkeit aller anderen Fächer für die Vermittlung und
Prüfung von Werten mindern.
Auf das Fach Religion gehe ich im Rahmen der anschließenden Diskussion ein.
Hinweisen möchte ich auf Sozialpraktika in der Art des Compassion-Projekts, das im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz Mitte der 1990er Jahre konzipiert wurde. Solche Praktika können eine werterzieherische Ergänzung des Fachunterrichts sein, indem sie lebensnahe Erfahrungen ermöglichen.
Auch im Sinne von Böckenförde wollten es die Initiatoren von Compassion nicht dem Zufall überlassen, ob die
nachwachsende Generation in einem Umfeld der Entsolidarisierung für die Gemeinschaft relevante Tugenden wie
Hilfsbereitschaft, Solidarität und Sorge entwickle.
Es sollen Anlässe geschaffen werden, um Werte wie Mitgefühl, Achtsamkeit und Achtung zu erfahren und zu reflektieren.
Das Praktikum führt in Altenheime, Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen, Obdachlosenheime, Kindergärten,
Bahnhofsmissionen und Ähnliches.
Eine fächerübergreifende unterrichtliche Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung findet statt.
Mittlerweile gehört für die Schulen der Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg das Programm zu ihrem Schulprofil. Aber auch andere private und staatliche Schulen im In- und Ausland haben zwischenzeitlich das Konzept übernommen, dass in der Modellphase wissenschaftlich begleitet wurde.
Verehrte Anwesende!
Ich hatte versucht zu verdeutlichen, dass eine wertorientierte Gestaltung von Unterricht und Schule nicht auf
unreflektierte Wertübernahme ausgerichtet sein darf, sondern Werturteilsfähigkeit und ethische Entscheidungskompetenz
zum Ziel hat.
Jürgen Rekus begründet dies wie folgt:
„Die Person kann sich nur selbst bilden. Freilich erfordert der Selbstbildungsprozess Unterstützung. Sie besteht aus dem
Unterricht, in dem Hilfen zur Aneignung des Wissens gegeben werden, sie besteht aus der Erziehung, in der dialogisch das
eigene Werturteil ausdifferenziert wird und sie besteht aus dem vorbildlichen Handeln der im Kontext der Schule und
Familie tätigen Personen.“-
Hartmut Kreß, Evangelisch-theologische Fakultät an der Universität Bonn, setzte sich im Jahr 2008 auf Einladung der Petra Kelly - Stiftung und der Humanistischen Union in München in einem Referat kritisch mit dem Böckenförde- Diktum auseinander.
In meinem Zusammenhang finde ich Teil zwei, der die Überschrift „Dialogische Toleranz als Leitbild einer modernen Kultur trägt“, besonders hilfreich.
Kreß sieht für den modernen säkularen, freiheitlichen Staat und für die pluralistische Gesellschaft die Toleranz als eine Verfassungsvoraussetzung sowie zentrale Gestaltungsaufgabe an.
Ihm liegt jedoch an einer erweiterten Toleranzidee, die man als dialogische Toleranz bezeichnen kann.
Bis heute sei dagegen häufig eine schwache Version von Toleranz anzutreffen, „ die andere Menschen und deren
Überzeugungen hinnimmt und erträgt, ohne … In eine innere, inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen“ einzutreten.
An dieser formalen Toleranz (die Unterscheidung stammt vom Religionswissenschaftler Gustav Mensching) sieht Kreß
Böckenförde interessiert.
Es sei Aufgabe des Staates diese sicherzustellen, quasi als Minimalbedingung für die Koexistenz der Menschen in einer
pluralistischen Gesellschaft.
Die von Kreß als notwendig erachtete und im Anschluss an Martin Buber dialogisch genannte starke Form von Toleranz geht von der Gleichwertigkeit der Menschen aus, sieht sie auf Augenhöhe und zielt auf einen „ gelebten Dialog“ mit der Bereitschaft, von anderen inhaltlich zu lernen sowie gegebenenfalls selbstkritisch mit eigenen Positionen umzugehen. Kreß ist davon überzeugt, dass „je intensiver die Kommunikation zwischen den Menschen und je höher der Grad ihres wechselseitigen Verständnisses sind … desto mehr… die Chancen auf kulturellen Frieden und auf kulturelle Konsensfindung“ steigen.
Toleranz kann aber nicht grenzenlos sein, wenn Grundrechte verletzt werden.
Kreß wörtlich:
„Daher kann es zum Beispiel nicht hingenommen werden, wenn unter Berufung auf die Religionsfreiheit das Grundrecht auf Gesundheitsschutz oder Persönlichkeitsrechte verletzt werden, wie es in islamischen Strömungen in Anbetracht der Frauenrechte oder bei der Praxis von Beschneidungen der Fall sein kann.“
Soweit Hartmut Kreß.
Die Hinweise auf Dialog und Kommunikation sind für unser Thema äußerst wichtig und hilfreich, weil sie für den inneren Frieden in unserer Gesellschaft so zentral sind.
Auch Otto Friedrich Bollnow, der große Tübinger Pädagoge, verweist in seinem Aufsatz über das „Wesen des Gesprächs“ zuerst auf Martin Buber, der die friedensstiftende Wirkung des „echten Gesprächs“ betont, um dann selbst auszudrücken, dass das eigentliche Gespräch etwas anderes ist, „als die übliche Konsensus-Theorie, nach der die Übereinstimmung mit dem anderen das Kriterium der Wahrheit ist. Hier handelt es sich nicht um ein Kriterium einer andernwärts schon gefundenen Wahrheit, sondern um die Entstehung der Wahrheit selbst. In diesem Sinn (so Bollnow) spreche ich vom Gespräch als Ort der Wahrheit.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
das Böckenförde- Diktum kann den Blick dafür schärfen, dass die Schule in besonderer Weise gehalten ist, jene
Voraussetzungen mitzugestalten, ohne die Freiheit, Demokratie und Pluralismus dauerhaft nicht erhalten werden können.
Unweigerlich gewinnt der Erziehungsauftrag an Bedeutung, in dessen Rahmen Werte reflektiert werden, die Werterziehung
nach ihren Ansätzen und Möglichkeiten befragt und das „ echte Gespräch“ als Mittel für kulturellen Frieden erkannt wird.
Ich denke, dass diese Überlegungen in einer heterogener werdenden Gesellschaft zusätzliche Relevanz besitzen.
Angesichts der aktuellen und mächtigen Herausforderung der Zuwanderung sollten wir aber damit umgehen können, dass wir nicht auf alles sofort die Antwort und Lösung haben, sondern auch der Frage an sich eine hohe Bedeutung beimessen. Möglicherweise liegt der Sinn einer solchen Veranstaltung auch darin, dass Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Einblicken und Kenntnissen die richtigen Fragen formulieren, um sie dem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Dialog als Aufgaben zu überlassen. Für diesen Prozess sind dann allerdings Haltungen notwendig, die durch Vernunft, Empathie und Verantwortung geprägt sind.
Albert Schweitzer hat in seiner kulturkritischen Schrift „Kultur und Ethik“ vor fast genau 100 Jahren geschrieben:
„Kultur und Ethik geraten ins Wanken, wenn uns der Mensch als Mensch nichts mehr angeht.“
Es macht schon sehr nachdenklich, wenn man in Informationsveranstaltungen gelegentlich Statements zu geplanten Gemeinschaftsunterkünften hört. Damit meine ich nicht Äußerungen, mit denen begründete Bedenken vorgetragen werden, sondern solche die zur Stimmungsmache von Klischees und Vorurteilen strotzen.-
Bis auf den Schluss klang mein Referat möglicherweise allgemein und grundsätzlich.
Ich denke aber, dass sich das Gesagte in alltäglichen Situationen widerspiegelt, vor allem in unscheinbaren
Begebenheiten.
Es wäre ein Gewinn an Lebensqualität und würde das gemeinsame Fundament stärken, wenn wir uns um eine Kultur der **
Wertschätzung** im Alltag bemühen würden. Wertschätzung äußert sich in Freundlichkeit, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit,
Akzeptanz, Toleranz, Interesse, Achtsamkeit.
Man kann diese Werte auch die schlichten Werte des Alltagslebens nennen.
Menschen benötigen Beachtung – von der Geburt bis der letzten Stunde.
Menschen sind auf Zeichen des Wahrgenommenwerdens angewiesen.
Im Hotel freundlich in den Frühstücksraum treten
Beim Einkaufen: eher einmal mehr grüßen, als zu wenig
Im Straßenverkehr: gelassen bleiben
An der Haltestelle einen wohlwollenden Blick oder gar ein nettes Wort den Mitwartenden schenken
Sich am Erfolg anderer ehrlich mitfreuen können
Dem Mitmenschen authentisch begegnen – ohne Fassade
Auch loben können
Den ersten Schritt auf einen anderen zu wagen
Sich bedanken können und zeigen, dass vieles nicht selbstverständlich ist
Interessiert zuhören und gedanklich nicht bereits den nächsten Schritt vollziehen …
Man wird feststellen können, dass solche Zeichen, die Ausdruck einer wertbasierten Haltung sind, Verkrampfungen lösen und das Leben im wörtlichen Sinn lebens-werter machen.
Ich bin überzeugt, dass es nicht nur eine Eskalation der Gewalt gibt. Es gibt viele Beispiele dafür, dass wenn der Teufelskreis der Ichbezogenheit durchbrochen wird, eine ansteckende positive Wirkung festgestellt werden kann.
Der bekannte Pädagoge Rainer Winkel schreibt in seinem kleinen Büchlein „Moment mal – 20 pädagogische Miniaturen“:
„Es sind nicht die großen Versprechungen, an denen die Menschen gedeihen, sondern die kleinen Taten und Gesten: ein
Anruf oder ein Postkärtchen, eine Umarmung oder eine Flasche Wein bewirken mehr und anderes als Meta-Kommunikationen und
gruppendynamische Feedbacks, Rollenspiele und Transaktionsanalysen – so wichtig diese sind. Sie bewirken aber auch mehr
und anderes als Rechtfertigungen und Imperative, Positionen und Appelle, Ausbrüche und jene endlos -destruktiven Kämpfe,
von denen unsere Beziehungen häufiger gekennzeichnet sind, als dies uns gut tut. Beziehungen stranden nicht an einigen
wenigen Felsbrocken, sondern an den tausenden von Kieselsteinen, die wir uns, durchaus legal, entgegen werfen.
Deshalb nutzen uns keine Giganten, sondern die kleinen Taten und Gesten, die schwieriger zu bewältigen sind als das, was
Sisyphos tut.
Der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec schreibt …:
„Am schwersten erklettert man Gipfel, die 10 cm hoch sind.“
Ich freue mich nun auf die Statements von Frau Blank und von Frau Wessels und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!