Böckenförde-Diktum
Von Friedrich-Leopold Graf zu Stolberg
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
- Die Banalität des Diktums
Ende Mai erschien in der Berliner Zeitung ein kritischer Artikel von Arno Widmann zu unserem Böckenförde-Zitat. Widmann stellte dort sinngemäß fest, daß dieser Satz ihn immer befremdet habe, denn seine Aussage sei ja in Wirklichkeit furchtbar banal: sie treffe auf alles zu, nichts könne für seine eigenen Voraussetzungen garantieren – der Erkenntnisgewinn sei also gleich Null, dafür gelinge ihm aber der rhetorische Kurzschluß der Plausibilität.
Ja, ich stimme Herrn Widmann zu: der Satz ist einerseits banal – übertragen wir ihn nur einmal (er gilt ja für alles) auf das Beispiel der Ehe: daß niemand für die Voraussetzungen, von denen sie lebt (als die wichtigste sehen wir in unserem Kulturkreis die Liebe an), garantieren kann, liegt auf der Hand. Das nimmt dem Satz aber doch nichts von seiner Bedeutung, denn wenn mir die Ehe etwas bedeutet, muß ich ihren Voraussetzungen – also den Bedingungen für ihren Bestand – also auch dem Geheimnis der Liebe, auf den Grund gehen – und spätestens da hört alle Banalität auf.
Trotz Widmann lohnt es sich also nach wie vor, sich immer wieder neu mit Böckenfördes Feststellung zum Staat auseinanderzusetzen (auch wenn zu seinen Voraussetzungen nicht gehört, daß er geliebt werden muß).
- Die Notwendigkeit, von der eigenen Situation auszugehen
Welche Bedeutung Böckenfördes Diktum heute in einer heterogener werdenden Gesellschaft für die Rechtsprechung (u. - soweit man als Leiter eines Gerichts auch Verwaltungsfunktionen bekleidet) Verwaltung hat, kann ich nur beantworten, wenn ich eine Vorstellung davon habe, was dieser Satz für mich – in meiner Aufgabe als Richter – bedeutet:
Zunächst ist das etwas ganz banales – siehe oben: auch ich lebe in meinem Beruf von Voraussetzungen, die ich nicht garantieren kann
z.B.
daß die Prozesspartei im Zivilverfahren, der Angeklagte im Strafverfahren, der Schuldner im Vollstreckungsverfahren nicht nur “den Staat” als für die Freiheit notwendige Korporationsform menschlichen Zusammenlebens, sondern auch mich als dessen Repräsentanten zumindest vom Grundsatz her akzeptiert (obwohl ich für die Richtigkeit dessen, was ich entscheide, nie absolut garantieren kann)
und, daß insbesondere auch diejenigen diese Grundakzeptanz zeigen, die unser Treiben oft kritisch beäugen – schließlich sprechen wir unsere Urteile “im Namen des Volkes”
Meine Aufgabe erschöpft sich dabei nicht im bloßen Entscheiden, sondern lebt auch davon, daß z.B. der Angeklagte auf irgendeine Art in eine Auseinandersetzung eintritt (selbst wenn er schweigt), - daß sich „etwas bewegt“, sonst kann ich mein Ziel – bzw. kann der Staat sein Ziel durch mich nicht erreichen (z.B. Prävention, Resozialisierung) nicht erreichen.
Beispiel Reichsbürgerbewegung (…..): gestörte HV / Mahnbescheide / Gerichtsvollzieher / DPH Die Nichtakzeptanz des Staates und seiner Vertreter ist bei diesen Menschen das leitende Prinzip
Beispiel Sorgerechtsstreit mit muslimischem Vater vor Familienrichterin
- Die Notwendigkeit eines „Opfers“
D.h., dem Angehörigen dieser Gemeinschaft, die ja – auch - eine Zwangsgemeinschaft ist, wird etwas abverlangt: Er (u. ich) muß quasi ein Opfer bringen für die Freiheit – für die eigene und die der anderen. (Für die Freiheit ein Opfer bringen klingt vielleicht paradox …, aber……..)
z.B. ein Verbot akzeptieren (von der nicht erteilten Baugenehmigung bis zum behördlich oder gerichtlich verhängten Fahrverbot) oder auch eine Erlaubnis ( - die Baugenehmigung des Nachbarn, die die schöne Sonnenlage beeinträchtigt), ein gerichtliches Urteil oder auch eine Zwangsvollstreckung. (Und das gilt auch für die Gemeinschaft insgesamt oder Gruppen in ihr – (s. “kollektive Urteilsschelte“).
- Die Bedingung des „Opfers“
Ist es so, daß es eines solchen Opfers bedarf, dann ist die entscheidende Frage: wie kann es kommen, daß ich so ein Opfer/Zugeständnis… akzeptiere (spätestens hier steigt Arno Widmann in seinem og. Artikel mit seinem Nachdenken aus – denn er hat den Satz dort nur als Aufhänger benutzt, um gleichzeitig mit dem persönlichen christlichen Antrieb Böckenfördes auch den staatlichen Zuschuß zum Leipziger Katholikentag zu kritisieren ((das darf man natürlich….. aber die sublime Insinuation, Böckenförde habe in die Richtung gedacht, daß der Staat über solche Leistungen vielleicht doch seine Voraussetzungen garantieren könne, geht nun sicher fehl)).
Wie kann es also zu einem solchen Opfer, einem solchen Zugeständnis kommen? Was bringt mich dazu, daß ich so etwas akzeptiere?
- weder Vernunft noch Zwang
die reine Vernunft? Daß der Mensch nicht unbedingt das tut, was er in der Theorie als vernünftig erkannt hat, hat schon die antiken Philosophen ziemlich geschmerzt. Und jeder von uns tut täglich Dinge, von denen er weiß, daß sie nicht vernünftig sind, und als Strafrichter kann ich Ihnen erst recht ein Lied davon singen – und bei der Staatsraison soll das dann funktionieren………..?
der Zwang oder die Angst vor negativen Konsequenzen/Strafe? Ohne die Notwendigkeit des Zwangs auch im freiheitlichen Staat infragezustellen: Wenn die Angst vor Zwang zum Hauptbeweggrund wird, leben wir gerade nicht mehr in einem freiheitlichen Staat.
Was also kann dann einen Menschen, kann mich zu solch einem Opfer motivieren?
- die Wurzel der eigenen Erfahrung: es bedarf einer Zuneigung:
Für den Versuch einer Antwort müssen wir radikal die Perspektive wechseln und uns an die Wurzel der eigenen Erfahrung begeben. D.h. die grundlegende Frage stellen, was denn überhaupt in der Lage ist, mich über die Reaktivität hinaus in Bewegung zu setzen.
Die Erfahrung zeigt - und jetzt sind wir erst mal weg von jeder Staatstheorie - , daß einen Menschen (mich) nichts, aber auch gar nichts anderes zu einem Opfer bewegen kann, als eine Zuneigung – nicht eine Zuneigung zum Staat (die gibt es nur im Sozialismus – angeblich) – sondern eine konkrete menschliche Zuneigung.
Böckenfördes Satz gilt ja, wie wir von Arno Widmann „gelernt“ haben, universal für alles. – Schauen wir uns also das schon genannte Beispiel der Ehe an oder auch das einer Eltern-Kind Beziehung. Da wird sofort klar, was es bedeutet, aus einer Zuneigung heraus Opfer zu bringen – um eines Gewinns willen.
Was aber hat das mit dem Staat zu tun? Wenn nur eine Zuneigung zu einem Opfer motivieren kann, dann braucht der Staat für seinen Bestand genau diese meine / Ihre Zuneigung - zu meinem Kind, zu meinem Partner, Nachbarn etc.
Er braucht also von mir etwas, für das ich selbst nicht garantieren kann – ich kann es nicht beschließen, ich kann es nur immer wieder neu entdecken (dafür bedarf es durchaus auch einer Anstrengung).
- Der Staat kann dies nicht hervorbringen
Der Staat kann zwar Bedingungen fördern, unter denen diese Zuneigung wachsen kann (bspw. den Freiraum für Familien fördern …) er kann sie aber nie generieren – durch keine Staatsbürgerkunde, durch keine Gemeinschaftskunde und durch keinen Ethikunterricht.
Das mit der Zuneigung klingt vielleicht auf den ersten Blick ein bischen sozialromantisch, wir kommen aber an dieser vorgegebenen Dynamik nicht vorbei: Die ganze Geschichte zeigt es und der Blick auf die Erfahrung der eigenen Person zeigt es: es gibt nichts anderes, das mich menschlich in Bewegung setzen könnte.
- Der heutige Staat verkennt diese Dynamik
Das größte Problem des Staates heute bzw. seiner Protagonisten, aber oft auch von uns allen (als Staatsvolk) ist, daß wir genau diese Dynamik verkennen. Wir erkennen die Notwendigkeit eines Basisbestands an Gemeinsinn, wir erkennen die niemals stillbare Sehnsucht nach Ruhe, Frieden, Sicherheit, Zuneigung und Anerkennung und - sehen den Staat in der Hauptverantwortung für deren möglichst vollständige Erfüllung. Wir wollen also letztlich doch vom Staat, daß er diejenigen Voraussetzungen schafft, für die er doch – mit Böckenförde realistisch betrachtet – niemals garantieren kann.
Aus diesem Wunsch entsteht dann ein meist durchaus ehrlich motiviertes, aber letztliche hilflos im Raum stehendes reaktives politisches Fordern und Handeln:
Beispiele, die den Bereich der Rechtsprechung unmittelbar betreffen und sie in große Schwierigkeiten bringen:
- zahlreiche Novellen des Sexualstrafrechts / “Köln”, “ein nein ist ein nein”…… (soll die Sehnsucht nach Gewaltfreiheit und sexueller Unversehrtheit erfüllen, wird aber solche Taten nie verhindern – auch die 150ste „Reform“ wird das nicht erreichen, ja nichteinmal zu einer Verbesserung führen)
- Verjährung. Ruhen bis zum 30. Lj., § 78b I Nr.1
- Familienrecht (elterliche Sorge, Unterhaltsrecht)
- AGG …… (hat sich dadurch irgendetwas im täglichen zwischenmenschlichen Bereich geändert? – außer enormen bürokratischen Aufwands, z.B. Schulungspflicht f. Mitarbeiter, Dokumentationszwang bei Einstellungen etc.) - ggf. Kostprobe aus dem Gesetzestext
andere aktuelle Beispiele:
- Integrationsgesetz …… (soll Integration aus dem zwischenmenschlichen Bereich in ein staatliches Programm heben)
- Steuerrecht ……
- Leistungsrecht (> Hilfsprogramme (die den Wunsch, Hilfe zu erfahren in einen Anspruch formen, Förderung….)
- Der Staat ist keine Glücksinstanz
D.h., der Staat will / soll Wünschen und Sehnsüchten Rechnung tragen, die er niemals erfüllen kann, ja seine ganze Rechtfertigung wird oft darin gesehen. (Der Staat kümmert sich um das Recht auf sexuelle Identität, Frauenrechte, Behindertenrechte, Ausländerrechte, Kinderrechte, das Recht auf Leben, das Recht auf einen würdigen Tod, usw. – und ich sage auch nicht, daß er das nicht soll (je nach politischer Couleur wird man da zu unterschiedlichen Lösungen kommen) das Problem ist aber der damit verbundene Anspruch, die damit verbundene Erwartungshaltung: wenn ich meine, mit einer Änderung des Sexualstrafrechts entsprechende Taten abschaffen und Ängste beseitigen zu können oder wenn ich meine, mit einem Recht auf Nicht-Diskriminierung (AGG) Diskriminierung abschaffen zu können, wird Gesetzgebung ideologisch statt realistisch -
Wie schon gesagt: der Wunsch, der Staat könne eine angstfreie Welt mit absoluter Freiheit schaffen, ist zwar verständlich, aber Erfüllung hat er nur in den Träumen der großen Utopien gefunden.
Der Staat ist keine Glücksinstanz, er kann die menschlichen Sehnsüchte nicht erfüllen: er kann die Voraussetzungen, von denen er lebt weder garantieren noch schaffen
- Beispiel Einstellungsgespräche für das Richteramt …. welches „Anforderungsprofil“ lege ich zu Grunde? – mit welchem Wunsch oder Anspruch treten die jungen Kollegen an? Und auf was treffe ich nach Jahren bei Personalgesprächen? Ernüchterung, Gleichgültigkeit, Zynismus oder verzweifelter Utopismus/Täumerei (S-G) – oder auch: „burn-out“
Kann der Staat diese Glücksinstanz von seinem Wesen her nicht sein, wollen wir aber dennoch nicht in ebendiese Gleichgültigkeit, …. verfallen, dann bedarf es etwas von außen
Der Appell, jeder müsse wieder selbst mehr Verantwortung übernehmen – für seine Kinder, seine pflegebedürftigen Angehörigen, für Behinderte und Benachteiligte etc.,
hilft da nicht viel weiter
So wie auch die berühmte „Ruck-Rede“ des Bundespräsidenten Roman Herzog von 1997 (…) nicht so viel weiterhelfen konnte.
- Zurück zur Ausgangsfrage
Ich denke, wir müssen vielmehr noch einen weiteren Schritt zurückgehen – hin wieder zu der Frage: von welchen Voraussetzungen lebe ich? - welche Voraussetzungen benötige ich - um meiner Freiheit willen?
- Zum einen Realismus (Unglücke gibt es, Ungerechtigkeiten gibt es – und wird es weiter geben
- und noch etwas anderes – und damit komme ich auf meine obige Ausgangsfrage zurück: von welchen Voraussetzungen lebe ich?
Als persönliche Antwort ein Beispiel aus meiner beruflichen Erfahrung:
- la notte – Verf.